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Zu der erwähnten Gruppe aus Deutschland, die Éva Péli und ich ein wenig begleiteten, gehörten neben Friedensaktivisten unter anderem von dem Verein «Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe» auch Mitglieder des Traditionsverbandes der Nationalen Volksarmee (NVA) und der Grenztruppen der DDR. Unter ihnen war ebenso der Songpoet und «Friedensberichterstatter» Tino Eisbrenner. Er trat bei der Konferenz zur Geschichte der Organisation des Warschauer Vertrages ebenso auf wie bei einem Liederfestival am 9. Mai im Moskauer Park Pobedy (Park des Sieges) und stellte in Moskau bei einer Pressekonferenz sein russisches Buch «Журавли. Немецкий поэт в гостях» (Schurawli – Deutsch: Kraniche. Ein deutscher Dichter zu Besuch) vor. Beim Treffen im russischen Veteranenverband sang er das legendäre Kinderlied von der «Kleinen weißen Friedenstaube» und wurde er von den Verbandsvertretern auch für seine Arbeit für die Völkerverständigung ausgezeichnet.
Eisbrenner hatte 2023 für Aufsehen gesorgt, als er beim Liederwettbewerb «Daroga na Jaltu» (Wege nach Jalta) im Moskauer Kreml-Palast den 2. Platz belegte. Er hatte unter anderem im Finale gemeinsam mit der russischen Sängerin Zara das sowjetische Lied «Журавли» (Schurawli – Deutsch: Kraniche) gesungen. Es erinnert an die gefallenen Soldaten, die als Kraniche am Himmel fliegen – ein Bild, das in Russland längst ein Symbol des Gedenkens und auch der Trauer ist. Der Songpoet erlebte im Mai 2023, wie das Publikum im Kremlpalast, etwa 6000 Menschen, sich von den Stühlen erhob, als er begann, die zweite Strophe des Liedes auf Deutsch zu singen.
Tino Eisbrenner am 13. Mai in Moskau (alle Fotos: Tilo Gräser)
Als ich das Video von dem Auftritt sah, bewegte es mich, weil es so unglaublich war – und es bewegt mich bis heute. Auch Eisbrenner war selbst tief ergriffen von dem Moment, wie er am 7. Mai auf der Pressekonferenz bei der russischen Nachrichtengagentur TASS berichtete. Auf dieser stellte er sein auf Russisch erschienenes Buch «Журавли. Немецкий поэт в гостях» (Kraniche. Ein deutscher Dichter zu Besuch) vor, das seine beiden deutschen Bücher «Lied vom Frieden» und «Kraniche – Schurawli» vereint. Er erinnerte sich an den Moment zwei Jahre zuvor im Kreml-Palast:
«Als ich an den Bühnenrand ging, um meine deutsche Strophe zu singen, haben sich die 6000 Gäste in dem Saal erhoben. Da wusste ich, dass meine Absicht, die Hand zu reichen als Deutscher, damit man in Russland auch andere Stimmen hört als nur die der deutschen Politiker, verstanden wurde. Dass diese Hand erkannt worden ist und dass sie mir zurückgegeben wurde vom Publikum. Das war ein sehr ergreifender Augenblick.»
Der Songpoet singt und spielt seit etwa 2010 gegen die zunehmende Russophobie an, in dem er auch Lieder sowjetischer Künstler wie Wladimir Wyssozki oder Bulat Okudschawa übersetzt und spielt. Mit dem Musiker Tobias Morgenstern hat er ein Puschkin-Programm aufgelegt, in dem er die Gedichte des großen russischen Dichters Alexander Puschkin vorträgt und in Nachdichtungen als Lieder interpretiert. Dafür und für sein Engagement, die kulturellen Brücken zwischen Deutschland und Russland zu erhalten, verlieh ihm im Oktober 2024 der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, die Puschkin-Medaille.
Ablehnung und Zustimmung
Seinen Einsatz für Frieden und Verständigung mit Russland, auch mit seinem Projekt «Musik statt Krieg», finden nicht alle in Deutschland gut. Nach seinem Auftritt 2023 im Kreml-Palast kündigten ihm Veranstalter vereinbarte Konzerte und auch die bis dahin langjährige Zusammenarbeit. Selbst aus der Linkspartei wurde er deshalb angefeindet und aus Veranstaltungen, bei denen er auftreten sollte, wieder ausgeladen. Das erlebt er bis heute, wie er im Gespräch erzählte. «Das hat meine Arbeit natürlich total verändert», berichtete Eisbrenner auf der TASS-Pressekonferenz.
«Dann gibt es aber auch die anderen Veranstalter, die mich jetzt besonders brauchen, weil sie sich selber engagieren wollen und sie tun es durch die Stimme des Künstlers. Ihr Statement ist es, diesen Künstler auf ihre Bühne zu holen. Und das Gleiche trifft auch für das Publikum zu. Ein Publikum, für das schon das Erscheinen bei einem Konzert von Eisbrenner ein Statement ist, ist natürlich auch sehr wertvoll für meinen eigenen Mut und für die Kraft, die man braucht, um im Wind stehen zu bleiben.»
Tino Eisbrenner bei der Pressekonferenz, links der Dolmetscher Alexander Kamkin
Den Zuspruch bekam der Songpoet auch in Moskau von seinen russischen Gesprächspartnern ebenso wie von den anderen Deutschen in der Gruppe. Mit seinem Buch will er den russischen Lesern auch von der «deutschen Seele» erzählen, nachdem er zuvor mit seinen Berichten aus Russland seinen deutschen Lesern die russische Seele vermittelte. Er wolle auch berichten über «die Deutschen, die eben nicht russophob sind und die die Freundschaft zwischen den Völkern gern erhalten wollen». Auf der Pressekonferenz sang der Songpoet das Lied von den Kranichen gemeinsam mit dem französischen Sänger Emmanuel Forest, der in diesem Jahr am dem Lieder-Wettbewerb im Kreml-Palast teilgenommen hatte.
Wie die anderen Deutschen aus der Gruppe verwies Eisbrenner auf seine Beobachtung, dass sie von den Menschen in Moskau und anderswo mit offenen Armen empfangen wurden. Von ihren russischen Gesprächspartnern sei immer wieder beteuert worden, «dass sie das deutsche Volk von der deutschen Politik zu unterscheiden wüssten und uns herzlich aufnahmen». In Russland werde «mit Sorge nach Deutschland» geschaut, sagte er im Gespräch mit Éva Péli und mir.
Das Trauma des Krieges vor mehr als 80 Jahren stünde vielen gerade in den Tagen um den 9. Mai wieder vor Augen. Jede russische Familie trage dieses Trauma, von Deutschen verursacht, mit sich, so der Songpoet. Und sie würden sich angesichts deutscher Kriegslüsternheit fragen, ob nun alles noch einmal losgeht.
«Sie haben den Deutschen verziehen und sind fassungslos, dass Deutschland seinerseits keinerlei Demut und Dankbarkeit zeigen zu wollen scheint.»
Stolz und Gedenken
Der 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus war von mehr als dem reinen Stolz über den mit großen Opfern errungenen Sieg über die deutschen faschistischen Vernichtungskrieger geprägt. Das zeigten die zahlreichen Veranstaltungen am 9. Mai und den anderen vorher und nachher. Das reichte auch weit über die international viel beachtete Siegesparade auf dem Roten Platz hinaus. Zu der waren 29 ausländische Staats- und Regierungschefs nach Moskau gekommen und hatten neben Russlands Präsident Wladimir Putin Platz genommen. An der Parade nahmen Militärs aus anderen Ländern teil, darunter aus China.
Das Ereignis, das viele Menschen aus Moskau und auch viele der angereisten Journalisten nicht selbst live verfolgen konnten, war vor allem ein Symbol. Die Parade, auf der auch nuklear bestückbare Raketen gezeigt wurden, war aber auch mehr als die von einem Kritiker beklagte «Kraftmeierei». Sie war zugleich nur ein Teil der zahlreichen und vielfältigen Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges. Die meisten von ihnen waren vor allem dem Gedenken an die unfassbar vielen Opfer des faschistischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion gewidmet. Die Zahl von 27 Millionen Toten, davon die Mehrzahl Zivilisten, gilt inzwischen als offiziell bestätigt.
Im Moskauer Park Pobedy (Park des Sieges)
Und wie auf der Parade wurden bei den Veranstaltungen jeweils Gedenkminuten für die Gefallenen, die Ermordeten, die Verletzten, aber auch die Überlebenden eingelegt. Wir erlebten das im Park Pobedy (Park des Sieges), wo auf einer Bühne mit einem Programm aus Liedern und Texten gefeiert und gedacht wurde. Nach der Gedenkminute ertönte aus den Lautsprechern das Fragment «Помните!» (Pomnitje – Deutsch: Erinnert Euch! aus dem Poem «Requiem» des sowjetischen Schriftstellers Robert Roschdestwenski von 1962. In dem heißt es unter anderem:
«Erinnert euch!
Durch Jahrhunderte, durch Jahre –
erinnert euch!
An diejenigen,
die nie wiederkommen werden –
erinnert euch!
…
Begrüßt den zitternden Frühling,
Menschen der Erde.
Tötet den Krieg,
verflucht
den Krieg,
Menschen der Erde!
Tragt den Traum durch die Jahre
und erfüllt ihn
mit Leben!
Aber an diejenigen,
die nie wiederkommen werden,
ich beschwöre euch,
erinnert euch!»
Gedenken an die Gefallenen
Dazu wurden Bilder von im Krieg Gefallenen auf die Leinwand projiziert. Die Passage aus dem Poem von Roschdestwenski hörten wir noch einmal an dem Tag. Der 9. Mai in Moskau war ein sonniger, aber kalter Tag gewesen und so ließen wir uns am Abend das beeindruckende Feuerwerk live entgehen. Wir sahen es uns im Hotelzimmer in der TV-Übertragung an.
Der russische Sender Perwy Kanal zeigte außerdem den Mitschnitt eines Konzertes auf einer Bühne am Kreml aus Anlass des Feiertages. Sänger, Schauspieler und Musiker erinnerten mit Liedern, Gedichten und Werken sowjetischer Komponisten an den Sieg und die Opfer des Krieges. Auch dabei erklang die Aufforderung, jene nicht zu vergessen, die nicht wiederkommen, vorgetragen vom russischen Schauspieler Sergej Schakurow.
Unterschiede und Enttäuschung
Diese Art zu gedenken, sich mit Stolz an den Sieg genauso wie mit Trauer an die dafür erbrachten unzähligen Opfer zu erinnern und zugleich das Leben zu bejahen, das hat mich bewegt und das bewegt mich bis heute. Wer das Leid nicht versteht, das der faschistische Überfall am 22. Juni 1941 über die Sowjetunion und ihre Völker gebracht hat, versteht auch nicht das, was für manchen als russischer Militarismus erscheint und solcher nicht ist. Der versteht auch nicht den Unterschied zwischen dem anerkannten Platz, den die Armee in der russischen Gesellschaft weitgehend (wieder) hat, und dem Militarismus und Kriegerkult in Deutschland und anderen westlichen Staaten.
Wenn deutsche Politiker das eigene Land wieder «kriegstüchtig» machen wollen, dann basiert das auf einer unheilvollen Geschichte, die mehrmals Leid über ganz Europa brachte. Die dahinterstehenden Interessen sind die gleichen geblieben. In Russland geht es angesichts der Geschichte und vor allem der des «Großen Vaterländischen Krieges», der am 9. Mai 1945 endete, um die Verteidigung der Heimat. Und es geht um die Verantwortung, von der am 8. Mai beim Treffen mit der deutschen Gruppe der russische Generalmajor a.D. Juri Djakow gesprochen hatte, nämlich alles dafür zu tun, dass sich so etwas nie wiederholt.
Wir erlebten auch die zunehmende Fassungslosigkeit in Russland angesichts dessen, was aus Deutschland und der Europäischen Union (EU) zu hören und zu erleben ist. Der Historiker Alexander Kamkin begleitete als hervorragender Übersetzer die deutsche Gruppe ebenso wie die Tass-Pressekonferenz von Tino Eisbrenner. Davon berichtete er auch auf seinem Telegram-Kanal und kommentierte zugleich die westliche Politik. Das «europäische Irrenhaus» sei im Zustand der «Schizophrenie», betäube sich mit halluzinogenen Drogen und verfalle «in völlige politische Sklerose». Die Prognose des Historikers:
«Am Ende werden die Panzer T-90 und T-72BMZ auf Podesten in europäischen Städten stehen.»
Die genannten Panzertypen sind derzeit in der Ukraine im Einsatz.
Sergej, seine Schwester verdeckt von der Fahne
Ein anderes Beispiel für das wachsende Unverständnis in Russland gegenüber Deutschland erlebten wir am Nachmittag des 9. Mai im Park des Sieges. Dort kamen wir auch mit Sergej ins Gespräch. Er saß mit seiner in Kasachstan lebenden Schwester, die extra zu Besuch gekommen war, auf einer Bank. Neben der russischen und der sowjetischen Siegesfahne hatten sie ein Schild mit einem Foto ihres Großvaters bei sich. Der war vor mehr als 80 Jahren in dem Krieg als Partisan gefallen, nachdem er als Soldat den Ersten Weltkrieg überlebt hatte. Sie wissen nicht, wo er begraben ist, erzählten sie uns im Gespräch.
Sergej berichtete uns, dass er seine Frau, die mit der gemeinsamen Tochter in Deutschland lebt, nicht besuchen könne. Sie sei 2014 aus dem Donbass geflohen und zuerst nach Russland gekommen, bevor sie nach Deutschland ging. Seit nun fünf Jahren hätten sie sich nicht mehr gesehen, sagte er mit Bitterkeit. Er wisse, dass in Ostdeutschland mehr Menschen prorussisch eingestellt seien. Doch angesichts der russlandfeindlichen deutschen Politik sagte er, er habe das deutsche Volk nie als Feind angesehen, aber es habe sich selbst zum Feind gemacht. Und er fügte hinzu:
«Wir wollten nur in guter Absicht nach Deutschland gehen. Aber wenn es sein muss, kommen wir auch in feindlicher Absicht!»
Dann stand er auf und ging mit seiner Schwester weiter zur Bühne im Park des Sieges.
Fortsetzung folgt
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